Warum Schweigen keine Option ist – Über Neutralität in Zeiten des Faschismus
Vielleicht kennst du das Gefühl: Du liest die Nachrichten, siehst Wahlergebnisse aus anderen Ländern oder hörst Gespräche in deinem Umfeld – und dir wird mulmig. Die Welt bewegt sich in eine Richtung, die Angst macht. Rechte Ideologien gewinnen an Einfluss, rassistische und diskriminierende Aussagen werden salonfähig, und Menschen, die ohnehin schon mit Ausgrenzung zu kämpfen haben, fühlen sich zunehmend unsicher. Gerade in der Psychotherapie – und in vielen anderen professionellen Kontexten – gilt die Regel der Neutralität. Therapeut:innen sollen nicht bewerten, nicht urteilen, keine politischen Haltungen einnehmen.
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Doch ich frage mich: Kann das jetzt gerade richtig sein? Ist es wirklich neutral, nichts zu sagen, wenn Faschismus auf dem Vormarsch ist?
In diesem Artikel erkläre ich, warum ich in diesen Zeiten nicht neutral sein kann.
Neutralität oder Gleichgültigkeit?
Die Idee der Neutralität kommt aus der klassischen Psychoanalyse. Therapeut:innen sollen keine eigenen Überzeugungen in den Raum bringen, damit Klient:innen frei über ihre Gedanken sprechen können. In vielen Bereichen ist das sinnvoll – schließlich geht es nicht darum, eigene Werte aufzudrängen.
Aber Neutralität bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Und sie bedeutet auch nicht, dass wir als Menschen, als Bürger:innen dieses Landes, keine Haltung haben sollten.
Wenn demokratische Grundwerte bedroht werden, wenn Minderheiten angegriffen werden, wenn rechte Gewalt zunimmt – dann ist Schweigen keine neutrale Haltung mehr.
Dann ist Schweigen Zustimmung.
Faschismus wächst, wenn wir nichts tun
Die Geschichte zeigt es immer wieder:
Faschistische Bewegungen erstarken nicht aus dem Nichts. Sie wachsen dort, wo Menschen schweigen, wo Grenzen nicht gezogen werden, wo Hass und Hetze unkommentiert bleiben.
- Wenn Politiker:innen offen rassistische Parolen verbreiten – und niemand widerspricht.
- Wenn Menschen im Alltag diskriminiert werden – und es als „Meinungsfreiheit“ abgetan wird.
- Wenn extrem rechte Parteien Wahlerfolge feiern – und es als „Protestwahl“ relativiert wird.
Es beginnt schleichend, fast unbemerkt. Ein rassistischer Kommentar hier, ein homophober Witz da. Erst sind es Worte, dann folgen Taten. Wir haben das in der Geschichte schon gesehen. Und wir sehen es gerade wieder.
Psychologie und Politik sind nicht getrennt
In meinen vorherigen Beiträgen habe ich bereits darüber geschrieben, wie psychische Erkrankungen mit Armut, sozialer Ausgrenzung und Marginalisierung zusammenhängen.
Wer weniger Geld hat, erfährt mehr Stress. Wer diskriminiert wird, leidet häufiger unter psychischen Belastungen. Wer ständig Angst haben muss, angegriffen oder ausgeschlossen zu werden, lebt in einem Zustand permanenter Unsicherheit – mit massiven Auswirkungen auf die seelische Gesundheit.
Das bedeutet: Rechte Politik ist nicht nur eine abstrakte Gefahr für die Demokratie, sondern auch eine ganz konkrete Bedrohung für das Wohlbefinden vieler Menschen.
Wenn soziale Ungleichheit wächst, wenn Menschen entrechtet werden, wenn Angst geschürt wird, dann steigen auch psychische Erkrankungen.
Neutral zu bleiben, während demokratische Werte angegriffen werden, wäre also nicht nur politisch fragwürdig – es wäre auch psychologisch fahrlässig.
Was wir tun können
Ich sage nicht, dass jede:r von uns ständig laut politisch sein muss. Aber ich glaube, dass wir uns bewusst machen sollten, dass unser Handeln (oder Nichthandeln) Konsequenzen hat.
Was also können wir tun?
- Haltung zeigen: Im Gespräch mit Familie, Freund:innen oder Kolleg:innen nicht schweigen, wenn rassistische oder menschenfeindliche Aussagen fallen.
- Informiert bleiben: Seriöse Quellen nutzen, um nicht auf Desinformation hereinzufallen.
- Solidarität zeigen: Betroffene Menschen unterstützen, sei es durch Worte, Taten oder Spenden.
- Wählen gehen: Demokratie ist kein Selbstläufer – jede Stimme zählt.
- Eigene Grenzen kennen: Nicht jede:r kann ständig kämpfen. Auch Selbstschutz ist wichtig.
Nicht neutral zu sein bedeutet, Mensch zu sein
Ich schreibe diesen Text, weil ich weiß, dass viele Menschen Angst haben und das auch zurecht.
Und weil ich glaube, dass wir nicht zulassen dürfen, dass Geschichte sich wiederholt.
Wenn du dich auch fragst, ob du neutral bleiben kannst oder solltest, dann sage ich dir: Du musst nicht politisch aktiv sein, um Haltung zu zeigen. Du musst nicht alles wissen, um für Gerechtigkeit einzustehen. Es reicht, nicht wegzusehen.
Denn am Ende ist es keine politische Frage, sondern eine menschliche: Wollen wir in einer Welt leben, in der alle sicher sind – oder in einer, in der wir aus Angst schweigen?
Die Wahl liegt bei uns.