Was ist Scham

12.06.2024

Scham ist ein tiefgreifendes und oft missverstandenes Gefühl, das viele von uns in unterschiedlichen Lebenssituationen erleben. Als Therapeutin ist es mir ein Anliegen, die Bedeutung der Scham im Kontext der psychischen Gesundheit zu beleuchten und aufzuzeigen, wie sie in der therapeutischen Arbeit angesprochen und bearbeitet werden kann. Ein besonders wertvoller Ansatz, den ich dabei nutze, stammt von der Forscherin und Autorin Brené Brown

Was ist Scham?

Scham ist das Gefühl, dass wir auf eine grundlegende Weise fehlerhaft oder unzulänglich sind. Es ist ein zutiefst persönliches und schmerzhaftes Erlebnis, das uns glauben lässt, wir seien nicht gut genug oder liebenswert. Brené Brown beschreibt Scham als „das intensiv schmerzhafte Gefühl oder die Erfahrung zu glauben, dass wir fehlerhaft sind und deshalb keine Liebe und Zugehörigkeit verdienen.“ Scham ist dabei nicht nur ein emotionales Erlebnis, sondern beeinflusst auch unser Denken und Handeln. Sie kann uns dazu bringen, uns zurückzuziehen, uns selbst zu sabotieren oder destruktive Verhaltensweisen zu entwickeln. Die intensive Angst vor Ablehnung und der Wunsch, uns zu verstecken, sind typische Reaktionen auf Scham.

Die Bedeutung von Scham in der psychischen Gesundheit

Scham spielt eine zentrale Rolle in vielen psychischen Problemen und kann das Wohlbefinden erheblich beeinträchtigen. Sie ist oft mit Gefühlen von Minderwertigkeit, Selbstzweifeln und Isolation verbunden. Menschen, die unter Scham leiden, ziehen sich häufig zurück und vermeiden soziale Interaktionen aus Angst vor Ablehnung oder Verurteilung. Scham kann auch die Ursache oder ein bedeutender Faktor bei verschiedenen psychischen Störungen sein, wie Depressionen, Angststörungen, Essstörungen und Suchtverhalten. Ihre allgegenwärtige und tief verwurzelte Natur macht sie zu einem kritischen Aspekt, der in der therapeutischen Arbeit adressiert werden muss, um nachhaltige Heilung und Wachstum zu ermöglichen.

Brené Browns Ansatz zur Scham

Brené Brown hat in ihrer Forschung vier wesentliche Elemente identifiziert, die helfen können, Scham zu überwinden:

Das Wissen über Scham

Zu verstehen, was Scham ist und wie sie funktioniert, ist der erste Schritt zur Überwindung. Scham gedeiht im Verborgenen, und durch das Bewusstmachen können wir beginnen, ihre Macht zu brechen. Indem wir Scham benennen und verstehen, können wir ihre Auswirkungen auf unser Leben erkennen und uns bewusst gegen ihre negativen Einflüsse entscheiden. Dieses Wissen gibt uns die Macht, Schamgefühle zu erkennen, wenn sie auftreten, und aktiv dagegen zu steuern.

Selbstmitgefühl

Brown betont die Bedeutung von Selbstmitgefühl. Anstatt uns selbst zu verurteilen, wenn wir Scham empfinden, sollten wir lernen, uns mit Freundlichkeit und Verständnis zu begegnen. Selbstmitgefühl bedeutet, uns selbst zu behandeln, wie wir einen guten Freund behandeln würden, mit Liebe und ohne harsche Selbstkritik. Es erfordert Übung, alte Muster der Selbstverurteilung zu durchbrechen und eine wohlwollendere Haltung uns selbst gegenüber zu entwickeln. Selbstmitgefühl stärkt unser emotionales Wohlbefinden und hilft uns, resilienter gegenüber Schamgefühlen zu werden.

Verbindungen und Beziehungen

Scham überwindet man nicht allein. Durch den Aufbau und die Pflege von unterstützenden Beziehungen können wir ein Gefühl der Zugehörigkeit und Akzeptanz erfahren. Menschen, die uns verstehen und akzeptieren, wie wir sind, bieten eine wichtige Gegenkraft zur isolierenden Natur der Scham. In Beziehungen, in denen wir uns sicher fühlen, können wir offen über unsere Schamerfahrungen sprechen und erfahren, dass wir trotz unserer vermeintlichen Fehler und Unzulänglichkeiten geliebt und geschätzt werden. Diese Erfahrungen sind essenziell, um Scham zu heilen und ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Mut und Verwundbarkeit

Es erfordert Mut, sich der Scham zu stellen und über sie zu sprechen. Brown betont, dass Verwundbarkeit keine Schwäche ist, sondern eine Quelle der Stärke und Authentizität. Verwundbarkeit bedeutet, sich offen und ehrlich zu zeigen, auch wenn es riskant erscheint. Durch die Bereitschaft, uns in unserer Verletzlichkeit zu zeigen, können wir tiefere und authentischere Verbindungen zu anderen aufbauen. Mutig zu sein und unsere Scham zu teilen, kann transformative Wirkungen haben und uns helfen, uns von der Last der Scham zu befreien.

Scham in der therapeutischen Arbeit

In der Therapie ist es entscheidend, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem Klient:innen über ihre Schamerfahrungen sprechen können. Einfühlsame und nicht verurteilende Zuhörer:innen können dazu beitragen, die Scham zu mindern und Heilung zu ermöglichen. Durch therapeutische Techniken wie EMDR, systemische Beratung und Traumatherapie können wir gezielt auf Schamgefühle eingehen und Wege zur Verarbeitung und Heilung finden. Es ist wichtig, dass Therapeut:innen die Dynamiken von Scham verstehen und sensibel darauf eingehen, um den Klient:innen zu helfen, ihre Scham zu erkennen und zu bearbeiten. Eine solche empathische und respektvolle Herangehensweise fördert Vertrauen und ermöglicht es den Klient:innen, sich offen mit ihren Schamgefühlen auseinanderzusetzen und neue, gesündere Verhaltensmuster zu entwickeln.

Fazit

Scham ist ein mächtiges Gefühl, das unser Leben stark beeinflussen kann. Durch das Verständnis und die bewusste Auseinandersetzung mit Scham, basierend auf den Ansätzen von Brené Brown, können wir lernen, sie zu überwinden und ein erfüllteres, authentischeres Leben zu führen. In der therapeutischen Praxis ist es von größter Bedeutung, Scham zu erkennen und zu bearbeiten, um die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden unserer Klient:innen zu fördern. Indem wir uns dem Thema Scham öffnen und uns mit Mitgefühl und Mut begegnen, können wir eine tiefgreifende Heilung erfahren und ein Leben in voller Akzeptanz und Wertschätzung führen.