Masking: Unsichtbare Anpassungsstrategien – Eine Herausforderung für neurodivergente Menschen
Im ersten Artikel habe ich die besonderen Herausforderungen beleuchtet, denen Eltern mit ADHS oft gegenüberstehen. Masking, auch als Camouflaging bekannt, ist eine Anpassungsstrategie, die viele neurodivergente Menschen anwenden, um in einer Gesellschaft zu bestehen, die neurotypische Verhaltensweisen als Norm setzt. Dieser Prozess des Verbergens oder Anpassens eigener Verhaltensweisen wird häufig bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) beobachtet, kann aber auch bei anderen neurodivergenten Gruppen vorkommen.
Was ist Masking?
Masking beschreibt den Prozess, in dem neurodivergente Menschen – bewusst oder unbewusst – ihre natürlichen Verhaltensweisen, Ausdrucksformen oder Eigenheiten verändern, um den Erwartungen ihrer Umwelt gerecht zu werden.
Ziel ist es oft, als „normal“ wahrgenommen zu werden, um soziale Interaktionen oder berufliche Anforderungen ohne negative Konsequenzen zu bewältigen.
Masking kann sich auf verschiedene Weise äußern, beispielsweise durch:
- Imitieren sozialer Interaktionen: Neurodivergente Menschen entwickeln oft festgelegte Gesprächsmuster und lernen, wie sie auf bestimmte soziale Signale reagieren müssen, um in sozialen Situationen nicht aufzufallen. So könnten Betroffene beispielsweise Gespräche im Voraus einstudieren, um nicht als auffällig oder "merkwürdig" wahrgenommen zu werden.
- Unterdrückung von Stimming-Verhalten: Stimming, also repetitive Bewegungen oder Geräusche zur Beruhigung, wird oft unterdrückt. Das kann besonders anstrengend sein, da Stimming und Fidgeting oft als Strategien zur Beruhigung in anstrengenden oder überwältigenden Situationen genutzt werden.
- Erzwingen von Augenkontakt: Obwohl es für viele neurodivergente Menschen, insbesondere für solche mit ASS, unangenehm oder sogar schmerzhaft sein kann, wird Augenkontakt gehalten, um als sozial kompetent zu erscheinen.
- Verbergen von Emotionen: Viele unterdrücken ihre wahren Gefühle oder spielen Emotionen vor, um nicht als „unangemessen“ wahrgenommen zu werden, etwa indem sie sich gezwungen fröhlich zeigen, obwohl sie innerlich überfordert sind.
Warum passiert Masking?
Masking tritt aus verschiedenen Gründen auf, die tief in den sozialen Strukturen und Erwartungen unserer Gesellschaft verankert sind:
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Streben nach sozialer Akzeptanz: Viele neurodivergente Menschen erleben, dass sie als „anders“ wahrgenommen werden. Um Ablehnung, Mobbing oder Diskriminierung zu vermeiden, verbergen sie ihre Unterschiede. Besonders in beruflichen oder schulischen Umgebungen ist der Druck hoch, sich anzupassen, um nicht ausgeschlossen oder als „schwierig“ abgestempelt zu werden.
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Beruflicher Druck: Arbeitsplätze sind oft auf neurotypische Verhaltensweisen und Fähigkeiten ausgerichtet, wie Multitasking, schnelle Anpassungsfähigkeit oder die Fähigkeit, soziale Interaktionen erfolgreich zu navigieren. Neurodivergente Menschen fühlen sich häufig gezwungen, diese Erwartungen zu erfüllen, und nutzen Masking, um beruflich erfolgreicher zu sein und nicht negativ aufzufallen.
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Unwissenheit über Neurodivergenz: Viele neurodivergente Menschen, insbesondere solche die erst relativ spät im Leben ihre Diagnose erhalten haben, haben lange keine klare Vorstellung von ihrer eigenen neurologischen Divergenz, sowie den daraus entstandenen Herausforderungen und Copingstrategien. Dies führt oft zu einem inneren Druck, sich anzupassen, um Missverständnisse zu vermeiden und den eigenen Platz in einer weitgehend neurotypischen Welt zu finden.
Theorien hinter Masking
Die Forschung zeigt, dass Masking eine Form des sozialen Copings ist, die dazu dient, in einer neurotypisch geprägten Welt zu bestehen. Studien von Hull et al. (2017) und Lai et al. (2017) verdeutlichen, dass Masking eine adaptive Strategie ist, um die Herausforderungen des sozialen Lebens zu bewältigen.
Bei Menschen mit ASS oder ADHS bedeutet dies oft, dass sie ihre natürlichen Impulse und Verhaltensweisen unterdrücken, um in sozialen oder beruflichen Kontexten akzeptiert zu werden.
Die soziale Anpassungstheorie besagt, dass Menschen ihr Verhalten an die Erwartungen ihrer sozialen Umwelt anpassen. Für neurodivergente Menschen bedeutet dies, dass sie Strategien entwickeln, um in sozialen Interaktionen erfolgreich zu agieren, selbst wenn diese Strategien eine erhebliche Belastung darstellen.
Die Selbstbestätigungstheorie weist darauf hin, dass Menschen das Bedürfnis haben, ihr Selbstkonzept vor sich selbst und anderen zu bewahren.
Dies führt oft dazu, dass neurodivergente Menschen sich bemühen, als „normal“ wahrgenommen zu werden, was das Masking verstärkt.
Kritische Perspektiven und Herausforderungen
Während Masking als Bewältigungsstrategie verstanden werden kann, gibt es auch kritische Stimmen, die es als Symptom einer ableistischen Gesellschaft betrachten.
Ableismus bezeichnet die systematische Diskriminierung und das Vorurteil gegenüber Menschen mit Behinderungen oder neurologischen Unterschieden. Kritiker:innen argumentieren, dass Masking in einer Gesellschaft notwendig wird, die Neurodivergenz nicht ausreichend wertschätzt und neurotypisches Verhalten als Standard setzt.
Langfristig kann Masking neurodivergente Menschen dazu zwingen, ihre wahre Identität zu verleugnen, um akzeptiert zu werden.
Anstatt Menschen zu drängen, sich anzupassen, sollte die Gesellschaft die Vielfalt der neurologischen Unterschiede feiern und die notwendigen Unterstützungsstrukturen bieten.
Psychische Auswirkungen von Masking
Langfristiges Masking hat oft erhebliche negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.
Untersuchungen zeigen, dass Masking mit einem erhöhten Risiko für Angststörungen, Depressionen, Burnout und sogar Suizidalität verbunden ist (Hull et al., 2021). Dies gilt sowohl für Menschen mit ASS als auch für solche mit ADHS.
Betroffene, die sich gezwungen fühlen, ihre wahre Persönlichkeit zu verbergen, erleben oft ein tiefes Gefühl der Entfremdung. Dies kann zu einem Verlust des Selbstwertgefühls und einem gestörten Selbstbild führen. Diese psychischen Belastungen können die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen.
Menschen mit ADHS, die ständig versuchen, den Anforderungen ihrer Umwelt zu genügen, erleben oft chronische Erschöpfung und Stress. Sie sind gezwungen, ihre Impulse zu unterdrücken und ihre Energie darauf zu verwenden, eine „neurotypische Fassade“ aufrechtzuerhalten. Dies führt häufig zu einer erheblichen emotionalen Erschöpfung, die als „ADHS-Burnout“ bezeichnet wird.
Masking bei ADHS
Bei Menschen mit ADHS zeigt sich Masking oft in Form von übermäßiger Selbstkontrolle, um den Eindruck zu erwecken, dass sie ihre Aufgaben im Griff haben, oder sie könnten ihre Impulsivität unterdrücken, was zu innerer Anspannung führen kann. Diese Masking-Strategien beinhalten oft das mühsame Erlernen und Anwenden sozialer Regeln, um in sozialen Interaktionen nicht negativ aufzufallen.
Ein weiteres Problem beim Masking bei ADHS ist, dass es die Diagnose erschweren kann. Viele Menschen mit ADHS, insbesondere Frauen, maskieren ihre Symptome so effektiv, dass sie von ihrem Umfeld als „normal“ wahrgenommen werden. Dies führt oft zu einer verspäteten Diagnose und dem Fehlen notwendiger Unterstützung.
Fazit
Masking ist ein komplexes Phänomen, das tief in den sozialen Normen unserer Gesellschaft verankert ist.
Während es kurzfristig als Überlebensstrategie dienen kann, birgt es langfristig erhebliche Risiken für die psychische Gesundheit.
Sowohl bei Menschen mit ASS als auch mit ADHS kann Masking zu chronischem Stress, Erschöpfung und einem Verlust des Selbstwertgefühls führen.
Es ist deshalb meiner Meinung nach sehr wichtig, dass wir als Gesellschaft die Existenz von Masking nicht nur anerkennen, sondern auch Wege finden, um neurodivergente Menschen in ihrer Authentizität zu unterstützen. Dies beinhaltet die Schaffung von Umgebungen, in denen Neurodivergenz nicht als Makel wahrgenommen wird und in denen Menschen keine Angst haben müssen, sie selbst zu sein.
Nur so können wir eine wirklich inklusive Gesellschaft schaffen, in der jede:r so sein kann, wie er:sie wirklich ist.
Quellen:
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Hull, L., Mandy, W., Lai, M.-C., Baron-Cohen, S., Allison, C., Smith, P., & Petrides, K. V. (2017). “Putting on My Best Normal”: Social Camouflaging in Adults with Autism Spectrum Conditions. Journal of Autism and Developmental Disorders, 47(8), 2519–2534. doi:10.1007/s10803-017-3166-5
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Lai, M.-C., Lombardo, M. V., Ruigrok, A. N., Chakrabarti, B., Wheelwright, S. J., Baron-Cohen, S., & MRC AIMS Consortium. (2017). Quantifying and exploring camouflaging in men and women with autism. Autism, 21(6), 690–702. doi:10.1177/1362361316671012
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Hull, L., Petrides, K. V., Allison, C., Smith, P., Baron-Cohen, S., Lai, M.-C., & Mandy, W. (2021). Is social camouflaging associated with anxiety and depression in autistic adults? Molecular Autism, 12(1), 4. doi:10.1186/s13229-021-00400-6
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Cook, J., Hull, L., Crane, L., & Mandy, W. (2021). Camouflaging in autism: A systematic review. Clinical Psychology Review, 89, 102080. doi:10.1016/j.cpr.2021.102080
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Howard, J. (2023, April 13). What Is Neurodivergent Masking & Why Do Professionals Do It? Neurodivergent Insights. Abgerufen von: https://www.neurodivergentinsights.com
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Jülich Forschungszentrum. (2021, September 15). Einfach anders? Forschungszentrum Jülich. Abgerufen von: https://www.fz-juelich.de